Die offizielle OberflĂ€che der âFlĂŒchtlingskriseâ ist die einer humanitĂ€ren GroĂtat. Deutschland, der sonst so unerbittliche Hegemon der EU, erklĂ€rte sich plötzlich bereit, eine groĂe Zahl FlĂŒchtlinge aufzunehmen. Hunderttausende strömten ins Land und werden seither irgendwo, irgendwie untergebracht und versorgt.
Aber war das wirklich eine humanitĂ€re Handlung? Normalerweise findet humanitĂ€re UnterstĂŒtzung fĂŒr FlĂŒchtlinge in der NĂ€he ihres Heimatlandes statt. Auch, weil die meisten FlĂŒchtlinge wieder in ihr Land zurĂŒck wollen. Wer die Geschichte deutscher Antifaschisten im Exil kennt, weiĂ, dass die Anlaufpunkte ihrer Flucht erst einmal die unmittelbaren NachbarlĂ€nder waren â die Tschechoslowakei, Frankreich, DĂ€nemark⊠das Muster findet sich immer und ĂŒberall: ein elender Zustand des eigenen Landes ist fĂŒr die Meisten kein Grund, sich auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden.
Der erste und unverzichtbare humanitĂ€re Schritt (ich blende jetzt mal die politischen Schritte wie eine Beendigung der Beteiligung an der Zerstörung anderer LĂ€nder aus) wĂ€re gewesen, das Möglichste fĂŒr die Versorgung der FlĂŒchtlinge vor Ort zu tun. Genau an diesem Punkt wurde das Gegenteil getan; die Mittel fĂŒr das UNHCR wurden von der EU gekĂŒrzt. Dabei gibt es einen sehr einfachen und höchst ĂŒberzeugenden Grund, warum eine Versorgung vor Ort die beste Lösung ist: gerade jene Menschen, die am verwundbarsten sind, also Alte, Kranke, MĂŒtter mit kleinen Kindern, können in der Regel gar nicht ĂŒber weite Strecken fliehen. Eine ernst genommene humanitĂ€re Verantwortung muss also dort ansetzen.
Nun wĂ€re es durchaus möglich gewesen, hier auch in der Form einer GewĂ€hrung von Schutz einzugreifen. Mittel und Wege zum Transport gröĂerer Menschenzahlen existieren durchaus, die Tourismusindustrie belegt das alljĂ€hrlich. Die Mengen, die ĂŒber die Balkanroute befördert wurden, sind durch gezielt eingesetzte Logistik problemlos zu schaffen. Anders gesagt, hĂ€tte Frau Merkel den Beschluss gefasst, eine gröĂere Zahl der SchutzbedĂŒrftigsten aus den FlĂŒchtlingslagern um Syrien zu holen, wĂ€re das machbar gewesen. Dann wĂ€re weder die humanitĂ€re Absicht anzuzweifeln gewesen noch wĂŒrde eine solche Gegenreaktion stattfinden, wie wir sie derzeit erleben. Es gab EntscheidungsspielrĂ€ume, und die Art und Weise, wie sie genutzt wurden, muss bewertet werden.
Das plötzliche âwir machen aufâ mit all seinen befremdlichen rechtlichen Eigenschaften hĂ€tte auch anders erfolgen können, kooperativ statt konfrontativ. WĂ€re die Bundesregierung bereit gewesen, eine verlĂ€ssliche Zusage darĂŒber, alle Kosten zu tragen, gegenĂŒber den LĂ€ndern entlang der Balkanroute zu ĂŒbernehmen, bis hin zur tĂŒrkischen Grenze, hĂ€tte die Strecke gefahrlos absolviert werden können. Genau diese Zusage wollte die Bundesregierung offenbar nicht machen; das deutet darauf hin, dass man die FlĂŒchtlinge den NachbarlĂ€ndern aufzwingen wollte, sprich, zumindest ganz und gar nicht humanitĂ€re Nebeninteressen bestanden. Wenn man berĂŒcksichtigt, wie die ökonomischen Voraussetzungen in den BalkanlĂ€ndern sind, könnte man dies durchaus als eine aggressive Handlung der Bundesregierung gegenĂŒber diesen LĂ€ndern werten, die deren SouverĂ€nitĂ€t ernsthaft beeintrĂ€chtigt.
Der gefĂ€hrlichste Teil der Strecke zwischen der TĂŒrkei und Griechenland, lieĂe sich völlig vermeiden. Kann es humanitĂ€r sein, eine Art darwinschen Parkours aufzubauen, der am Ende genau die SchutzbedĂŒrftigsten scheitern lĂ€sst? FĂŒr eine humanitĂ€re Handlung ist die Zusammensetzung der hier Eingetroffenen zumindest seltsam. Junge MĂ€nner zwischen 20 und 30 sind eher das Material, das man aus Anwerbephasen frĂŒherer Jahrzehnte kennt. Sie haben der eigentlichen Zielgruppe humantĂ€ren Handelns eines voraus â sie sind als ArbeitskrĂ€fte verwertbar.
Kollateralnutzen
Leider vermischen sich bei fast allen zwei völlig unterschiedliche Ebenen der Geschichte um die FlĂŒchtlinge. Entweder alles ist gut oder alles ist schlecht. Nur â das Handeln der FlĂŒchtlinge selbst (bezogen auf den schlichten Akt, hierher zu kommen) und das Handeln der Regierung mĂŒssen getrennt voneinander betrachtet werden. WĂ€hrend die FlĂŒchtlinge schlicht versuchen, ihre Haut zu retten (und zwar auch jene, die nur vor dem Elend, nicht vor Krieg flĂŒchten, auch Elend tötet), handelt die Regierung, insbesondere Merkel, tatsĂ€chlich aggressiv.
Das gilt nicht nur nach innen, sondern vor allem nach auĂen. Parallel zu den âVerhandlungenâ auf europĂ€ischer Ebene liefen Versuche, die Kontrolle ĂŒber die AuĂengrenzen der EU zu europĂ€isieren, was schlicht heiĂt, sie deutschem Gebot zu unterwerfen. Die Griechen sollten, nachdem durch die Troika schon die Wirtschafts- und Sozialpolitik in Berlin gemacht wird, auch die Innenpolitik abtreten. Die âVorschlĂ€geâ, die jĂŒngst aus der TĂŒrkei gemacht wurden,stammten tatsĂ€chlich aus Berlin und belegen, wie innig die Zusammenarbeit zwischen Merkel und Erdogan ist; dabei muss man sich vernĂŒnftigerweise auch fragen, ob die Mengen der mit falschen Versprechungen in Bewegung gesetzten Menschen nicht bereits durch Berliner-Istanbuler Kooperation in Marsch gesetzt wurden.
FĂŒr die LĂ€nder entlang der Route ist das eine höchst bedrĂ€ngende Situation, durch die tatsĂ€chlich ihre SouverĂ€nitĂ€t ernsthaft bedroht wird. Diese Bedrohung wiederum erzwingt eine Kooperation mit Erdogan und seinen KriegsplĂ€nen, mit offensichtlichem Segen aus Berlin. Sprich, die ganze Folge der Ereignisse ist von den Manövern gegen Syrien nicht zu trennen, sie ist ein Teil der imperialistischen Aggression, und die FlĂŒchtlinge sind die Druckmasse, mit der Merkel die ĂŒbrigen LĂ€nder Europas an ihre PlĂ€ne binden will, die noch weit inniger mit der wahabitischen Koalition TĂŒrkei/Saudi-Arabien verstrickt sind, als selbst jene der USA. Kein Wunder, dass gerade zu diesem Zeitpunkt neue Waffenlieferungen an Saudi-Arabien genehmigt wurden.
Es sind nicht die FlĂŒchtlinge, die die SouverĂ€nitĂ€t der europĂ€ischen LĂ€nder bedrohen, es ist die Politik der Regierung Merkel, die nach innen möglichst viele Nebenkonflikte eröffnet und nach auĂen mit dem Charme eines Panzers die eigenstĂ€ndigen Entscheidungsmöglichkeiten der europĂ€ischen Nachbarn eliminiert. Dieser aggressive Charakter des Merkelschen Handelns wie auch die rechtlich fragwĂŒrdige QualitĂ€t wird von all jenen ĂŒbergangen, die sich auf die ErzĂ€hlung der humanitĂ€ren GroĂtat einlassen; damit aber werden sie zu Kollaborateuren einer Politik, die innerhalb Europas wie auch gegenĂŒber Syrien zutiefst feindselig ist. (Wenn jetzt die Rede davon ist, wieviel die TĂŒrkei fĂŒr die armen syrischen FlĂŒchtlinge getan habe und dass man ihr einen Teil der Last abnehmen mĂŒsse, sollte man nicht vergessen, dass Erdogan einer der Hauptverantwortlichen dafĂŒr ist, dass es ĂŒberhaupt GrĂŒnde gibt, aus Syrien zu fliehen. Eigentlich wĂ€re hier eine europĂ€ische Sanktionspolitik gebotenâŠ.)
Was hier als mangelnde Bereitschaft der europĂ€ischen Nachbarn zu humanitĂ€rer Kooperation dargestellt wird, ist tatsĂ€chlich ein Versuch, die eigene SouverĂ€nitĂ€t gegen das Berliner Diktat zu verteidigen. Weshalb auch hier die Frage, was fortschrittlich und was reaktionĂ€r ist, etwas komplizierter ist, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Denn ein Deutschropa ist keinesfalls im Interesse der europĂ€ischen Völker, mag der Vorwand dafĂŒr noch so edel wirken.
Der nicht vorhandene Staat
Betrachten wir jetzt, wie mit den FlĂŒchtlingen weiter verfahren wurde. Man hĂ€tte erwarten mĂŒssen, dass eine zentrale Koordinierung auf Bundesebene stattfindet; dass so schnell wie möglich Mittel flieĂen, die Versorgung und Unterbringung ermöglichen.
TatsĂ€chlich erfolgte das Meiste bisher zu Lasten der Kommunen. Nachdem praktischerweise eine direkte Kooperation zwischen Bund und Kommunen in der Verfassung untersagt ist, ist der Erstattungsweg fĂŒr kommunale Leistungen aufwendig und vor allem â langsam.
Die Unterbringung ist fĂŒr viele Unternehmen ein gutes GeschĂ€ft, und auch die Armutsindustrie bekommt ihr HĂ€ppchen. Die einen betreiben UnterkĂŒnfte, die anderen das Catering, dritte liefern die Wachmannschaft; und da die Kommunen unter Handlungszwang stehen, können sie weder ordnungsgemĂ€Ăe Ausschreibungen durchfĂŒhren noch wirklich verhandeln. Eine Situation, die geradezu nach Bestechung schreit und eine breite Schmierspur der Korruption durch die Verwaltungen des Landes ziehen dĂŒrfte.
Aber muss das so verlaufen? Gibt es nicht einen Staat, der umfassende Möglichkeiten besitzt? Im FrĂŒhherbst gab es vielerorts Klagen darĂŒber, es gĂ€be keine Zelte, keine SchlafsĂ€cke mehr zu kaufen⊠Die Bearbeitung der AsylantrĂ€ge (die gestellt werden mĂŒssen) dauert, weil schon die Einstellung neuer BeschĂ€ftigter Monate in Anspruch nimmt. In Berlin vor dem Landesamt fĂŒr Gesundheit und Soziales, das unter dem KĂŒrzel Lageso mittlerweile berĂŒchtigt ist, stehen seit Monaten Menschenschlangen auf der StraĂe, bei jedem Wetter. Ist dieses Chaos wirklich Alles, wozu ein hochentwickeltes Industrieland im Stande ist?
Nein, ist es nicht. NatĂŒrlich gĂ€be es die Möglichkeit der Planung und Koordination, gĂ€be es die Möglichkeit, EngpĂ€sse in der Verwaltung durch Versetzungen und Neueinstellungen auszugleichen. Das Problem ist schlicht â es soll Beute gemacht werden. Es geht nicht darum, die FlĂŒchtlinge so schnell es geht und so gut es geht zu versorgen. Es geht darum, nicht gegen das Tabu zu verstoĂen, öffentliche Stellen zu schaffen, und ansonsten der âPrivatwirtschaftâ möglichst viele Ertragsmöglichkeiten zu schaffen. Wollte man wirklich schnellstmöglich einigermaĂen ertrĂ€gliche UnterkĂŒnfte aufbauen â ein Staat ist nicht darauf angewiesen, dass ihm private Firmen umgebaute Container liefern. Ein Staat könnte selbst im Handumdrehen eine solche Firma errichten und seine eigene Nachfrage decken. TatsĂ€chlich lĂ€sst man lieber monatelang Menschen in Zelten hausen. Ist ja auch hĂŒbsch. FĂŒr die Betreiber der ZeltunterkĂŒnfte zumindest; jenseits des Oktoberfests dĂŒrfte es noch keine Gelegenheit gegeben haben, bei der mit GroĂzelten so viel zu verdienen war.
Ein Staat könnte sogar selbst HĂ€user bauen. Sich die erforderlichen GrundstĂŒcke nehmen. Ein Staat kann viele Dinge, die heute in Vergessenheit geraten sind. Die Bundesrepublik hat sich im Umgang mit den FlĂŒchtlingen auf eine Art ineffizient und chaotisch verhalten, dass man fĂŒrchten muss, sollte es wieder einmal ein Hochwasser geben, wĂ€ren sie mit der Bestellung der SandsĂ€cke fertig, wenn der letzte Keller renoviert ist. Die Ăberzeugung, die Privatwirtschaft könne alles besser, und der Glaube, nur ein Staat, der nicht eingreife, sei ein guter Staat, ist so tief eingedrungen, dass nicht nur jede FĂ€higkeit, mit wirklichen Katastrophen umgehen zu können, in Zweifel steht, sondern auch die gesamte politische Klasse nicht einmal mehr Kritik an dieser Abwesenheit staatlichen Handelns formulierte.
Oder handelt es sich um gewolltes Chaos? Ăber den Raubzug durch die kommunalen Kassen hinaus um einen gezielt erweckten Eindruck von Hilflosigkeit und Ăberforderung?
Die gespaltene ErzÀhlung
Wer den Reaktionen in sozialen Netzen folgt, wird feststellen, dass sich seit letztem Sommer zwei völlig voneinander getrennte ErzĂ€hlungen etabliert haben. In der einen hat Merkel gut und edel gehandelt, die FlĂŒchtlinge werden schlecht versorgt und durch rassistische Ăbergriffe bedroht. In der anderen hat Merkel blindwĂŒtig Terroristen ins Land gebracht, die Frauen und MĂ€dchen bedrĂ€ngen und die vorhandenen Einwohner bedrohen. Beide ErzĂ€hlungen haben ihre eigenen Höhepunkte; in der einen ist es Lageso, in der anderen die Silvesternacht in Köln.
Zwischen beiden ErzĂ€hlungen gibt es keine Verbindung mehr, und um beide scharen sich gröĂere Gruppen von Menschen, die einander feindselig gegenĂŒberstehen. Jede Seite hĂ€lt die ErzĂ€hlung der jeweils anderen fĂŒr völlig erlogen.
Besonders leicht geht das, weil auch die Migranten gewogenere Seite nie frei von Rassismus war. Das war schon in den Achtzigern zu merken, im Vorlauf zur Schleifung des Asylrechts. Entweder waren die Asylbewerber hinterhĂ€ltige BetrĂŒger oder hilflose, arme Opfer. Wirkliche Menschen sind allerdings in der Summe immer irgend etwas dazwischen, und Elend fördert nicht den Edelmut. Damals schon gab es vielfach diese gespaltene Wahrnehmung; weil die Menschen, die hierher kamen, besonders gut und edel sein mussten, um die Zuwendung der vermeintlich nicht rassistischen Deutschen zu verdienen; und letztere mussten entweder alles ausblenden, was nicht gut und edel war, oder die Freundlichkeit konnte im Handumdrehen in Ablehnung umschlagen.
Genau diese Lage finden wir heute wieder, nur um ein vielfaches verschĂ€rft. NatĂŒrlich sind groĂe Zahlen alleinstehender junger MĂ€nner, die man eng aufeinanderpackt und konsequent zum Nichtstun verdammt, fĂŒr die umgebende Gesellschaft unangenehm. Es ist in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten jene Gruppe, die am schnellsten zu Gewalt und Ăbergriffen neigt. Schlimmer noch, auf der Fluchtstrecke sind sexuelle Ăbergriffe nicht unĂŒblich, und Jugendliche, die es etwa aus Afghanistan bis hierher geschafft haben, konnten dem selten entgehen. TatsĂ€chlich ist die zwangsweise Unterbringung in groĂen Lagern, die unter dem Kommando irgendwelcher privater Sicherheitsfirmen stehen, gekoppelt mit enttĂ€uschten Erwartungen, geradezu eine Einladung fĂŒr Schwierigkeiten. Wer sich an die AtmosphĂ€re in WochenendzĂŒgen erinnert, als groĂe Zahlen von Wehrpflichtigen nicht gĂ€nzlich nĂŒchtern zurĂŒck in ihre Kasernen fuhren, weiĂ, wie leicht das fĂŒr AuĂenstehende, insbesondere Frauen, bedrohlich wirkt oder auch tatsĂ€chlich bedrohlich werden kann. Nicht umsonst waren in solchen ZĂŒgen immer mal wieder FeldjĂ€ger unterwegs.
Es wĂ€re möglich, solche Situationen zu vermeiden. Die Unterbringung in groĂen Lagern ist Konsequenz einer politischen Entscheidung. Das Gesetz, dass dieses bis zum Abschluss des Asylverfahrens vorschreibt, kann auch geĂ€ndert werden. GĂ€be es offizielle Selbstverwaltungsstrukturen in den Lagern, gĂ€be es auch eigene AutoritĂ€ten, die besagte junge MĂ€nner zur Ordnung rufen könnten. Auch hier muss man wieder beachten, dass keine Struktur und keine Verfahrensweise naturgesetzlich ist, sondern Ergebnis eines mehr oder weniger bewussten Handelns.
Nichts davon wird innerhalb der politischen Debatte thematisiert. Im Gegenteil. Das monatelange Elend vor dem Lageso fĂŒhrte selbst in der politischen Linken nicht dazu, der Berliner Landesregierung auf die Zehen zu steigen und ein angemessenes staatliches Handeln einzufordern. Stattdessen wurden Wasser und Decken verteilt, damit die armen Menschen beim Warten nicht so sehr leiden.
Das Mistloch der Gnade
Um zu erfassen, wie sehr die offizielle Darstellung ĂŒber die groĂzĂŒgige Aufnahme von FlĂŒchtlingen mit Halbwahrheiten gespickt ist, muss man das Aufenthaltsrecht etwas genauer betrachten.
Als Ergebnis eines Asylantrags gibt es vier unterschiedliche Arten von Aufenthaltsrecht. Die höchstwertige ist das ursprĂŒngliche Asyl, das eine belegbare individuelle Verfolgung voraussetzt. Danach kommt der FlĂŒchtlingsstatus, der der Genfer Konvention entspricht, der aber immer noch zumindest eine Verfolgung als Angehöriger einer gesellschaftlichen Gruppe zur Voraussetzung hat. Dritte Stufe ist der sogenannte subsidiĂ€re Aufenthalt, der z.B. BĂŒrgerkriegsflĂŒchtlingen gewĂ€hrt wird, und die letzte ist die Duldung, die darauf beruht, dass eine Abschiebung nicht möglich oder fĂŒr die Betroffenen gefĂ€hrlich ist. Auf Stufe drei und Stufe vier ist immer nur ein befristetes Aufenthaltsrecht zu haben.
Auch wenn de MaziĂšre im September noch vollmundig tönte, die hier eingetroffenen FlĂŒchtlinge wĂŒrden nach der Genfer Konvention aufgenommen, geht es in Wirklichkeit nur um ein Aufenthaltsrecht nach Stufe drei oder vier. Schon in den regulĂ€ren Verfahren um politisches Asyl, wenn persönliche Verfolgung nachgewiesen werden kann, spielten immer die politischen Interessen der BRD eine gewichtige Rolle â oftmals wurde echte und belegbare Verfolgung bei befreundeten Staaten schlicht ignoriert. SubsidiĂ€rer Aufenthalt und die Duldung sind noch weitaus stĂ€rker Spielball des politischen Interesses. Wenn man bedenkt, dass Afghanistan mittlerweile zum âsicheren Herkunftslandâ erklĂ€rt wurde oder die Berichterstattung der deutschen Presse ĂŒber den Donbass betrachtet, lĂ€sst sich unschwer sehen, wie unsicher ein Status ist, der auf einem subsidiĂ€ren Aufenthaltsrecht beruht. Letztlich ist das eine Gnade, die jederzeit wieder zurĂŒckgenommen werden kann.
WĂ€hrend also auf der einen Seite durch Meldungen wie ĂŒber ein Stipendienprogramm fĂŒr FlĂŒchtlinge, die studieren wollen, der Eindruck einer Bevorzugung selbst gegenĂŒber schon lange hier integrierten Migranten erweckt wird, wird die Gesamtheit der eingetroffenen FlĂŒchtlinge tatsĂ€chlich in einem prekĂ€ren, unsicheren, ausgelieferten Zustand gehalten. Das betrifft auch ihre eventuellen Arbeitsmöglichkeiten. Gleich, wie momentan herumgetönt wird â die wirkliche Perspektive lautet, jene, die der deutschen Industrie verwertbar erscheinen, werden auf die eine oder andere Art bleiben dĂŒrfen, der Rest ist Manövriermasse.
Es wird natĂŒrlich ein wenig dauern, bis diese Lage den eingetroffenen FlĂŒchtlingen voll bewusst wird. Kaum anzunehmen, dass sie darauf mit Freude reagieren. Aber das passt ja ins Spiel.
Die Klaviatur der Angst
Welches Interesse könnte eine Regierung haben, eine solche Farce zu inszenieren? Die erste Antwort ist ganz schlicht â es geht darum, Angst zu erzeugen.
Es ist zwar nur wenigen bewusst, aber die StabilitĂ€t des Kapitalismus beruht immer zu einem groĂen Teil auf Angst. Es gibt viele Möglichkeiten, âunpassendesâ Verhalten zu sanktionieren, und die wenigsten davon werden ĂŒber das ausgeĂŒbt, was man den UnterdrĂŒckungsapparat nennt. Neben Polizei und Justiz finden sich Behörden wie die Jobcenter im Katalog der Disziplinierenden; im weiteren Umfeld finden sich selbst die medizinischen Berufe, die ebenfalls als höchstes anzustrebendes Ziel die Verwertbarkeit als Arbeitskraft verinnerlicht haben. In der neuesten Version des Katalogs der psychischen Erkrankungen in den USA (DSM-5) wird beispielsweise inzwischen jede Trauerphase um einen verlorenen Angehörigen, die zwei Wochen ĂŒberschreitet, als krankhaft definiert. Auf diese Art und Weise wird Druck aufgebaut, wie man sich zu verhalten hat, um als ânormalâ zu gelten.
Die alltĂ€glichste Form der Bedrohung entsteht aber schlicht durch die Unsicherheit der Existenz, die alle betrifft, die ihre Arbeitskraft verkaufen mĂŒssen; die Gefahr, die Arbeit, die Wohnung und das soziale Umfeld zu verlieren oder in Armut zu geraten. Diese bestĂ€ndige, subtile Angst ist nötig, um Menschen ĂŒberhaupt dazu zu bringen, eine so streng kontrollierte Unterordnung hinzunehmen, wie sie in der modernen Arbeitsgesellschaft ĂŒblich ist.
Die normale heutige Existenz ist weit von dem entfernt, was fĂŒr Menschen GlĂŒck ausmacht. GlĂŒck findet sich nĂ€mlich vor allem in Beziehungen mit anderen Menschen; durch als sinnvoll erlebte Handlungen; in einem Miteinander, nicht in einem Gegeneinander, in FĂŒrsorge, Aufmerksamkeit und Zuneigung. Vor eine wirkliche Wahl gestellt, tĂ€glich eine Stunde mehr in Gesellschaft von Freunden zu verbringen oder immer das neueste I-Phone zu haben, wĂŒrden sich immer noch die meisten Menschen fĂŒr die Freunde entscheiden. Oder ihre Familie. Aber diese Wahlmöglichkeit gibt es nicht.
In der englischen Geschichte des 18. und frĂŒhen 19. Jahrhunderts kann man nachlesen, dass groĂe Teile der von den Grundbesitzern vertriebenen Landbevölkerung lieber als Wegelagerer und Vagabunden lebten, als sich ins Dasein als Lohnarbeiter zu fĂŒgen, fĂŒr sie die abscheulichste Form der Unfreiheit. Um sie in diese Existenz zu zwingen, wurden drakonische Strafen selbst fĂŒr die geringsten GesetzesverstöĂe verhĂ€ngt. Das wichtigste Disziplinierungsmittel war das Arbeitshaus, in dem sie gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen wurden; und tatsĂ€chlich ist dieses Arbeitshaus der kulturelle Stammvater der modernen Fabrik.
Der Grad der GefĂŒgigkeit, der in heutigen AblĂ€ufen gefordert wird, in Produktion wie Verwaltung, bedarf nicht nur einer Ă€uĂeren Unterordnung, sondern auch innerer Kooperation. Um diese GefĂŒgigkeit zu erreichen, die jeder menschlichen Regung widerspricht (unter Anderem, weil sie fĂŒr fremdes Interesse erfolgt), gibt es zwei Mittel â die VerfĂŒhrung durch den Konsum, also die Befriedigung falscher BedĂŒrfnisse, die an die Stelle der echten treten, und die schiere Angst.
Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts hat in Deutschland die VerfĂŒhrung als Methode immer weiter abgenommen und wurde durch die Angst ersetzt. Immer weitere TĂ€tigkeiten werden so elend entgolten, dass jenseits der reinen Existenz kein Konsum mehr möglich ist. Zum Ausgleich wurde, beispielsweise mit Hartz IV, ein ausgeklĂŒgeltes Regime des Schreckens entfaltet, das deutliche AnklĂ€nge an die ArbeitshĂ€user des 19. Jahrhunderts zeigt.
Zu diesem Regime des Schreckens gehört auch die bestĂ€ndige Konkurrenz gegeneinander, die schon in der Grundschule eingeĂŒbt wird. Inzwischen kann es innerhalb ein und derselben Firma BeschĂ€ftigte von beliebig vielen Subunternehmen und Leihfirmen geben, Leute mit WerkvertrĂ€gen, die scheinbar selbstĂ€ndig sind, Praktikanten⊠hunderterlei Kategorien, die hunderterlei Abstiege möglich werden lassen.
Selbst um Wohnungen muss konkurriert werden, steht immer einer gegen den anderen. Und solange diese Konkurrenz nicht durch Einsicht aufgehoben wird, stellt sie sicher, dass sich die Menge den Interessen der Wenigen fĂŒgt.
Die Notwendigkeit, zur Erhaltung der Gewinnerzielung immer neue falsche BedĂŒrfnisse zu wecken, fĂŒhrt, weil sie die Wahrnehmung wirklicher BedĂŒrfnisse erschwert, zu immer weiter gehender Vereinzelung und damit zu stetig höherer EmpfĂ€nglichkeit fĂŒr Angst. Denn letztlich ist es soziale Isolation, die Angst macht, und eine sichere soziale Umgebung, die Angst verringert. Sowohl fĂŒr den Absatz der auf kĂŒnstliche BedĂŒrfnisse zielenden Produkte als auch fĂŒr die maximale Beherrschbarkeit und Unterordnung ist das ideale GegenĂŒber des Kapitals ein vereinzeltes, ausgeliefertes und verĂ€ngstigtes Individuum.
Stabil oder nicht?
Wer einen Blick auf die momentane Entwicklung des globalen Handels wirft, wird einen tiefen Einbruch erkennen. Nach wie vor kann man sich in Deutschland vielen Illusionen hingeben, was QualitĂ€t und Tiefe der Weltwirtschaftskrise angeht, die sich seit 2007 manifestiert; schlieĂlich ist es gelungen, die Folgen innerhalb Europas umzuverteilen. In Griechenland stiegen Obdachlosigkeit, Selbstmordrate und Kindersterblichkeit, in Spanien ist die HĂ€lfte der Jugendlichen arbeitslos, aber in der Bundesrepublik herrscht relative Ruhe. Der jetzt erfolgende Einbruch des Welthandels steht fĂŒr eine kleine, zyklische Krise ĂŒber der nach wie vor aktiven groĂen; die jĂŒngsten Entwicklungen um die Deutsche Bank wie auch um diverse andere deutsche Konzerne legen nahe, dass diese Welle nicht spurlos am Exportgiganten BRD vorĂŒberziehen wird.
Mit der Krise lĂ€sst sich eine parallele Entwicklung in allen kapitalistischen KernlĂ€ndern beobachten â es finden rechtliche und technische Vorbereitungen auf gröĂere soziale Auseinandersetzungen statt. Quer durch Europa gibt es eine Zunahme von Ăberwachung und Kontrolle; sei es durch Lauschen im Internet oder durch Abschaffung des Bargelds; ĂŒberall fĂŒhrt die Polizei BĂŒrgerkriegsĂŒbungen durch, die Bevölkerung wird an eine gleichsam militĂ€rische PrĂ€senz gewöhnt und erste Experimente, wie lange sich ein Notstand halten lieĂe und ob die daraus folgenden EinschrĂ€nkungen demokratischer Rechte auf Widerstand stoĂen, laufen bereits beim französischen Nachbarn.
Die neoliberale Ideologie, die die Apparate tief durchdrungen hat, erzeugt mittlerweile wahrnehmbare DisfunktionalitĂ€t (das hĂŒbscheste deutsche Beispiel dafĂŒr ist der Flughafen Berlin-Brandenburg). Der Staatsapparat erfĂŒllt jedoch immer zwei Funktionen â die eine besteht schlicht darin, Besitz und Macht der herrschenden Klasse zu sichern, die zweite darin, die erforderliche Koordination und Infrastruktur fĂŒr die komplexe Arbeitsteilung bereit zu stellen. Die zweite Funktion ist jene, aus der die staatliche Macht ihre Legitimation zieht. Wird sie unzureichend oder schlecht oder letztlich gar nicht mehr erfĂŒllt, zerfĂ€llt diese Legitimation; der Gewaltapparat, der immer nur als ErgĂ€nzung zur Kooperation dienen kann, reicht dann womöglich nicht mehr aus, die Herrschaft zu sichern.
Neben der inneren AufrĂŒstung ist eine Erhöhung des Angstpegels in der Gesellschaft die einzige Methode, die bleibt, um die bestehende Macht zu stabilisieren. WĂ€hrend also auf den ersten Blick die âEinfuhrâ der FlĂŒchtlinge und die um sie herum aufgebauten Konflikte und Ăngste (die beide Seiten gleichermaĂen treffen, die sich gleichermaĂen voreinander fĂŒrchten) destabilisierend wirken, sind sie letztlich ein Mittel, das eine schwach werdene Herrschaft stabilisiert. So wie die zaristischen Pogrome Anfang des 20. Jahrhunderts eine fragil werdende Zarenherrschaft stĂŒtzten, stĂŒtzt eine erzeugte Feindseligkeit gegen die willentlich als Gegner dargebotenen FlĂŒchtlinge die Macht eines Staates, der zentrale Funktionen bereits nicht mehr erfĂŒllt. Das Scheitern beziehungsweise das Fehlen staatlichen Handelns im Sinne der Risikoverminderung wird durch das dargebotene Drama ĂŒberdeckt und die aus einer realen (auch Sinn-) Krise entstehende Wut wird auf ein fĂŒr das goldene Prozent ungefĂ€hrliches Objekt gelenkt.
Die unsichtbare Wirklichkeit
Nehmen wir einmal unsere Fantasie zusammen und stellen wir uns dieses Land vor, mit seiner Industrie, seinem Reichtum, aber ohne die jetzige Politik und ohne die Begrenzungen, die der Vorrang des Kapitals vor allem anderen auslöst. Also sein theoretisches Potential.
Könnte dieses Land eine Million, zwei Millionen Menschen aufnehmen, woher sie auch kommen? Ja, es könnte. Es könnte auch jedem Menschen, der hier lebt, eine Wohnung bieten, eine Arbeit unter menschenwĂŒrdigen Bedingungen und wesentlich mehr Freiheit.
Könnte es, ein, zwei Millionen Menschen integrieren, woher sie auch kommen? Ja, das könnte es. Wenn es ein Projekt fĂŒr eine gemeinsame Zukunft gĂ€be, eine Hoffnung, die geteilt werden und miteinander verbinden kann.
Es wird ungeheurer Aufwand getrieben, um diese Tatsachen vergessen zu lassen. Dieses Land ist nach wie vor reich und es hĂ€tte alles, was es braucht, um die BedĂŒrfnisse seiner Bewohner zu decken. Es gibt keine Notwendigkeit dafĂŒr, dass fast die HĂ€lfte der Alleinerziehenden in Armut lebt, keine Notwendigkeit dafĂŒr, dass das Gesundheitssystem von Jahr zu Jahr schlechter wird, dass die Zahl der Wohnungslosen stetig zunimmt, dass die einzige erkennbare Perspektive in einer fortlaufenden Verschlechterung des Lebens der Vielen zugunsten eines zĂŒgellosen Reichtums der Wenigen besteht.
Dieses Land mĂŒsste keine anderen LĂ€nder plĂŒndern, um seinen Wohlstand zu wahren. Die DDR, die dies nicht tat, war dennoch die achtgröĂte Industrienation der Welt.
Die Predigt des âzu wenigâ, des ânicht zu finanzierenâ prĂ€gt den politischen Alltag. Es ist die festgehĂ€mmerte Denkgrenze, die davon abhalten soll (und es auch tut), die verordnete Misere in Frage zu stellen. Ganz zu schweigen davon, AnsprĂŒche auf eigenes GlĂŒck zu erheben.
NatĂŒrlich wĂ€re es möglich, in diesem Land in einem Jahr 200 000 Wohnungen zu bauen oder mehr. DafĂŒr brĂ€uchte es nur mehr als zwei Bauarbeiter und fĂŒnf Maschinen, und die Vorgabe, dass mit spĂ€terer Vermietung Gewinn erzielt werden muss, muss fallen.
Alles wÀre möglich. Wir stehen nicht am Ende der Geschichte. Wir können in einem freundlichen und friedfertigen Land leben. Um diesen Gedanken erst gar nicht entstehen zu lassen, wird ein ungeheurer Aufwand getrieben.
Die alltÀgliche Barbarei
Nimmt man einmal diese Perspektive ein, verĂ€ndert sich auch die Wahrnehmung der bundesdeutschen Gegenwart. Dann wird die Tatsache, dass Ărmere mittlerweile zehn Jahre frĂŒher sterben, von einer bedauerlichen Nebenwirkung zur gezielten VernachlĂ€ssigung. Die Tatsache, dass Alleinerziehende in Armut leben, von einer Randerscheinung des Arbeitsmarktes zur amtlichen Kindsmisshandlung. Wie barbarisch diese Gesellschaft wirklich bereits geworden ist, erschlieĂt sich erst, wenn man die verborgenen Möglichkeiten ins Visier nimmt.
Diese Barbarei, die aus der stĂ€ndigen Konkurrenz der Habenichtse im Interesse der Superreichen resultiert, ist inzwischen zum prĂ€genden Merkmal des Alltags geworden. Ein kleines Beispiel fand sich jĂŒngst anlĂ€sslich eines tödlichen Unfalls in MĂŒnchen: ein 15-jĂ€hriges MĂ€dchen wurde von einer StraĂenbahn ĂŒberfahren. Weil es Kopfhörer trug, hatte es die Tram nicht gehört. Das UnglĂŒck fĂŒhrte zu einer solchen Woge menschenverachtender Reaktionen, dass die Redaktion der MĂŒnchner Abendzeitung öffentlich erklĂ€rte, die Zusendungen der Leser könnten nicht veröffentlicht werden. MitgefĂŒhl war in der Ăffentlichkeit nicht zu finden, schon gar nicht so etwas wie ein gemeinsames GefĂŒhl des Verlustes angesichts des Tods eines Kindes (so wĂŒrde fast jede menschliche Gesellschaft reagieren). Das ist der sichtbare Ausfluss einer gesellschaftlichen Stimmung, in der die kommende Generation nicht lĂ€nger die gemeinsame Zukunft darstellt, sondern nur noch das Reproduktionsprodukt Einzelner. Weil dieses Beispiel weit abseits politischer Fragen liegt, also nicht durch PropagandafeldzĂŒge etwa gegen Arme beeinflusst ist, zeigt es sehr deutlich den Geisteszustand dieser Republik.
Die behauptete HumanitĂ€t durch die Aufnahme der FlĂŒchtlinge ist also eine offiziell verordnete Dekoration ĂŒber der tiefen Barbarei, und wird zudem noch als Mittel genutzt, um eine wirkliche Wahrnehmung des Zustands zum Schweigen zu bringen.
Merkel hat diese Sicht bei ihrem Auftritt in der Bundespressekonferenz im letzten August deutlich ausformuliert: âWenn so viele Menschen so viel auf sich nehmen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu erfĂŒllen, dann stellt uns das ja nun wirklich nicht das schlechteste Zeugnis aus. Unsere Freiheit, unser Rechtsstaat, unsere wirtschaftliche StĂ€rke, die Ordnung, wie wir zusammenleben das ist es, wovon Menschen trĂ€umen, die in ihrem Leben Verfolgung, Krieg, WillkĂŒr kennengelernt haben. Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nun wirklich nicht immer so.â So ist das. Menschen trĂ€umen von Deutschland, und daher ist jede Kritik an den hiesigen ZustĂ€nden unangebracht.
Noch einen Schritt weiter ging jĂŒngst der SPIEGEL in seiner Kommentierung des Armutsberichts des ParitĂ€tischen: âEs ist fahrlĂ€ssig, den Eindruck zu erwecken, dass es vielen Menschen in Deutschland immer schlechter geht. Wer wider besseres Wissen so tut, als könnten immer mehr MĂ€nner und Frauen trotz harter Arbeit oder gestiegener Hartz IV-BezĂŒge kein wĂŒrdiges Leben fĂŒhren und zum Beispiel ihren Nachwuchs nicht mehr angemessen ernĂ€hren, der handelt verantwortungslos. Er trĂ€gt weitere Unruhe in jene Teile der Bevölkerung, die wegen der FlĂŒchtlingskrise ohnehin schon verunsichert sind, und treibt denjenigen WĂ€hler und UnterstĂŒtzer zu, die einfache Antworten liefern.â Das âwider besseres Wissenâ ist natĂŒrlich blank gelogen. In der SchluĂfolgerung zeigt sich allerdings, was als Nebenprodukt der vermeintlichen HumanitĂ€t abfallen soll â ein Schweigegebot ĂŒber das heimische Elend.
Damit zeigt sich jetzt offen, was bei der Inszenierung des vergangenen Sommers erst zu ahnen war â humanitĂ€r ist nur das, was die Regierung so nennt, und wer andere Fragen aufwirft, ist schon allein dadurch ein schlechter Mensch. Wer nicht Rassist genannt werden will, oder Helfershelfer der Rassisten, soll ĂŒber die soziale Wirklichkeit dieser Republik schweigen. Und weil, wie oben dargestellt, die Wahrnehmung der wirklichen Möglichkeiten dieses Landes nicht existiert, sondern alle, auch die politische Linke, sich darauf einlassen, so zu tun, als wĂ€ren allerhöchstens winzige Verbesserungen möglich, funktioniert diese moralisierende Zensur.
Was dadurch allerdings nicht hergestellt werden kann, ist wirkliche HumanitĂ€t. Die ist nĂ€mlich nicht teilbar in jene, die man gerade besonders lieb hat und jene, die einem inzwischen gleichgĂŒltig sind. Ein humanes Deutschland mĂŒsste sich um die Alleinerziehenden, die Armen, die Wohnungslosen ebenso kĂŒmmern wie um die FlĂŒchtlinge. TatsĂ€chlich kĂŒmmert es sich um alle Genannten nicht, und die gesamte Gesellschaft sinkt immer tiefer in die barbarische Konkurrenz jedes gegen jeden, und die nur behauptete HumanitĂ€t fĂŒhrt dazu, das Sinken noch weiter zu beschleunigen.
Die Ohnmacht des Einzelnen
Eine Herrschaft von Wenigen ĂŒber Viele hat immer eine Grundvoraussetzung â dass sich die Wenigen einig sind, die Vielen aber nicht.
Wenn in der Geschichte der Arbeiterbewegung von SolidaritĂ€t die Rede war, ging es genau darum, der Macht der Wenigen durch die VerbrĂŒderung der Vielen etwas entgegenzusetzen. Es ging nicht um Edelmut oder NĂ€chstenliebe oder andere hehre Ideale. Es ging um die Grundvoraussetzung des Widerstands. Einzeln ist der Oligarch mĂ€chtig, wir sind es nicht. Die Barbarei, die sich in unserer Gesellschaft ausbreitet, stĂ€rkt die Oligarchen und schwĂ€cht die besitzlosen Klassen. Wer Seinesgleichen als Konkurrenten sieht und nicht als BĂŒndnispartner, kann sich nicht zur Wehr setzen, von einer wirklichen Beendigung barbarischer VerhĂ€ltnisse ganz zu schweigen.
Das Problem dabei: die eigene SchwĂ€che und die Konkurrenz gegeneinander ist das, was man alltĂ€glich erlebt. Ich bekomme den Job oder du, ich bekomme die Wohnung oder du⊠und der inszenierte Mangel wie die Propaganda tun ihr Ăbriges. Solange der wirkliche Kampf, der Unten gegen Oben, nicht stattfindet, muss man sich immer wieder gezielt ins Bewusstsein rufen, dass man nicht hilfloses Opfer ist, dass die Macht der Wenigen auf tönernen FĂŒĂen steht und dass diese Gesellschaft reich genug ist, um alle angemessen zu versorgen. Das ist ein bestĂ€ndiges Ringen. MĂŒhsam und anstrengend.
Um diese einfache, aber gefĂ€hrliche Erkenntnis zu verhindern, dass die Vielen jede Macht der Wenigen zu Nichte machen können, werden alle Mittel genutzt. Es werden ganze Bewegungen aus der Taufe gehoben, um abzulenken â Syriza in Griechenland war ein schönes Beispiel dafĂŒr. Neue Parteien als Spielzeug, neue Themen als BeschĂ€ftigungstherapie, und als letzte Bastion eine Geschichtsschreibung, die jede Möglichkeit, die Massen könnten selbst ĂŒber ihr Schicksal bestimmen, abstreitet. Jede Art der Spaltung wird genutzt, jede Chance, einen Teil der Unteren gegen den anderen zu stellen. Weshalb die wichtigste Regel, ob nun marxistisch begrĂŒndet oder nicht, fĂŒr jede Art von Widerstand lautet: jede Variante, die den eigenen Nachbarn, gleich wie er aussieht und woher er kommt, zum Feind erklĂ€rt und nicht die Oligarchie, mit tiefem MiĂtrauen zu betrachten und grĂŒndlich daraufhin zu ĂŒberprĂŒfen, ob hier ein weiteres Scheingefecht aufgezogen werden soll, um die Macht zu stĂŒtzen.
Momentan scheinen viele den Umgang mit den FlĂŒchtlingen fĂŒr eine Schicksalsfrage dieses Landes zu halten, auf beiden Seiten, der âlinksâ und der ârechtsâ ettikettierten. Die Schicksalsfrage dieses Landes lautet aber ganz anders, schon seit hundert Jahren: ob die breite Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, sich den Interessen der Oligarchie, des Konglomerats aus Banken und Konzernen, zu unterwerfen, oder selbst ĂŒber ihr Leben entscheiden will. Man kann sich gut vorstellen, wie in den oberen Etagen schmunzelnd betrachtet wird, wie die einen sich in Fortsetzung der tĂ€glichen Barbarei gegen die FlĂŒchtlinge wenden und die anderen sich schĂŒtzend vor sie werfen; wie von oben auf vielerlei Art Ăl ins Feuer gegossen wird, um möglichst nahe an bĂŒrgerkriegsĂ€hnliche ZustĂ€nde zu kommen, und wĂ€hrenddessen die Planungen fĂŒr den Notstand genĂŒĂlich auf aktuellen Stand gebracht werden. Und ich wĂŒrde gerne alle Köpfe mit den HĂ€nden greifen, auf die TĂŒrme in Frankfurt richten und sagen, âhic Rhodus, hic saltaâ, dort sitzt der wahre Feind.
Je schĂ€rfer die WidersprĂŒche werden, desto wichtiger wird es, sich nicht von spontanen GefĂŒhlen ĂŒberwĂ€ltigen zu lassen. Von keiner der dargebotenen ErzĂ€hlungen. Sondern nĂŒchtern zu betrachten, wo die wirklichen Interessen liegen. Und das wirkliche Interesse der weit ĂŒberwiegenden Mehrheit besteht darin, die rĂ€uberische Herrschaft der Oligarchien zu beenden. Nicht mehr und nicht weniger. An dieser Frage hĂ€ngt die Möglichkeit des kleinsten alltĂ€glichen GlĂŒcks, aber auch die Frage unseres Ăberlebens als Gattung.
Und die Macht kann gebrochen werden. Vor 145 Jahren, am 18.MĂ€rz 1871, ermöglichte die Pariser Kommune einen ersten Blick darauf, wie das geschehen kann. Ăber den Donbass wird vor allem deshalb so erbittert geschwiegen, weil auch dort die Menschen ihr Schicksal in die eigenen HĂ€nde genommen haben; unvollkommen, sicher, aber dieser erste Schritt ist es, der nicht wahrgenommen werden darf. Brecht brachte diesen Wendepunkt im Denken in seinem Gedicht âResolution der Kommunardenâ so auf den Punkt:
In ErwÀgung unsrer SchwÀche machtet
ihr Gesetze, die uns knechten solln.
Die Gesetze seien nun nicht mehr beachtet,
in ErwĂ€gung, dass wir nicht mehr Knecht sein wollân.
In ErwÀgung, dass ihr uns dann eben
mit Gewehren und Kanonen droht
haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
mehr zu fĂŒrchten als den Tod.
FĂŒr alle, die nicht wissen, was die Pariser Kommune war und warum sie nach wie vor ein Leuchtfeuer der Hoffnung ist, hier ein Link auf ein Video des ORF aus dem Jahr 1977; eine Dramatisierung der Kommune durch die österreichische Gruppe âDie Schmetterlingeâ (manche kennen Teile daraus vielleicht schon aus der âProletenpassionâ):