Den Meisten ist vermutlich nicht bekannt, dass der erste Weltkrieg hätte verhindert werden können. In zwei der beteiligten Länder gab es eine starke Arbeiterbewegung, die vor dem Krieg über lange Zeit hin gegen Kriege Stellung bezogen hatte. Für Deutschland und Frankreich lässt sich das mit zwei Sätzen illustrieren – August Bebels Ausspruch „Diesem System keinen Mann und keinen Pfennig“ und die Aussage von Jaures, „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“.
In einem dieser Länder war diese Bewegung stark genug, dass sie die Kriegsmaschinerie tatsächlich hätte stoppen können. Die deutsche Sozialdemokratie hatte 1914 über zwei Millionen Mitglieder, die sich auf ein wesentlich größeres Deutsches Reich mit 65 Millionen Einwohnern verteilten. In der heutigen Bundesrepublik dürfte das also etwa einer Partei mit drei Millionen Mitgliedern entsprechen. Um diese SPD gruppierten sich Gesangs- und Sportvereine, Konsumgenossenschaften und Gewerkschaften. Die Fraktion der SPD war bereits 1912 die größte im Reichstag. Diese Partei besaß im gesamten Land 600 Tageszeitungen, die ihre Positionen unters Volk brachten. Bis Anfang August 1914 schrieben diese Zeitungen tagtäglich gegen die wachsende Kriegspropaganda an.
Mit Beginn des Krieges kippte die politische Haltung der SPD abrupt. Es hatte Jahre zuvor bereits Anzeichen dafür gegeben, die Ablehnung der Kolonialkriege war nicht einheitlich (in Namibia war der Völkermord an den Herero bereits geschehen), dennoch war die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten am 4. August für viele eine Überraschung. Dieses Datum markiert den Moment, an dem sich die Arbeiterbewegung in zwei Stränge teilte – den, der die Bezeichnung sozialdemokratisch beibehielt und den Krieg unterstützte, und jenen, der sich weiter gegen den Krieg engagierte und sich später kommunistisch nannte. Diese Spaltung erfolgte in allen Ländern, in denen es eine Arbeiterbewegung gab.
Ein Teil der Erklärung für diesen verhängnisvollen Umschwung ist sicher Verrat. Den Führern der SPD-Fraktion wurde versprochen, sie dürften mitregieren, wenn sie während des Krieges stillhielten. Ein Teil ist sicher schlichte Angst, denn neben dem Angebot der Bestechung gab es auch die Drohung, die Führung der Partei zu Verrätern zu erklären und entsprechend zu behandeln. Aber es gab noch einen dritten Teil, den einer der Kriegsgegner, Julian Borchardt, in einer Broschüre 1915 niedergelegt hat.
Er berichtet, auf einer Sitzung der Chefredakteure der sozialdemokratischen Presse sei man übereingekommen, nicht länger gegen den Krieg zu schreiben, weil sonst die Arbeitsplätze von 11 000 Beschäftigten der sozialdemokratischen Presse in Gefahr wären… denn Zeitungen, die nicht in die nationale Propaganda einstimmten, wurden verboten; also wurde die Botschaft vom einen auf den anderen Tag komplett umgedreht und 600 sozialdemokratische Tageszeitungen schrieben für den Krieg. Wer sehen will, wie ungeheuerlich diese Veränderung war, kann in der Junius-Broschüre von Rosa Luxemburg einige frappante Beispiele finden.
Die starke deutsche Sozialdemokratie hatte also die Möglichkeit, Frieden zu erzwingen, und hat sie aus der Hand gelegt. Die 11 000 Beschäftigten der Zeitungen behielten ihre Jobs, aber Millionen sind in den Schützengräben verblutet.
Die aus diesem Bruch entstandenen kommunistischen Parteien zogen einige Konsequenzen aus dieser Erfahrung. Die Organisation blieb zentralistisch, weil das ein Erfordernis ist, um politisch wirksam werden zu können; die Beschlüsse der Führung wurden aber enger an die Basis angebunden und die politische Bildung der Mitglieder war nicht mehr freiwillig, sondern obligatorisch. Nur ein höherer Wissensstand könnte einen Verrat von oben neutralisieren.
An obigem Beispiel ist aber noch ein Punkt wichtig: die versammelten Redakteure waren sicher der Meinung, moralisch gut gehandelt zu haben. Innerhalb des Mikrokosmos der Zeitungen selbst traf das auch zu. Im Gesamtbild, also im Zusammenhang mit dem beginnenden Weltkrieg, war dieses Handeln aber alles Andere als moralisch.
Das illustriert, dass eine Handlung nicht absolut richtig oder falsch ist, sondern ein und dieselbe Handlung im einen Kontext richtig, im anderen falsch sein kann. Je weniger man bereit ist, die Gesamtsituation zu betrachten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, falsch zu handeln.
Was ist Rassismus?
In neueren Definitionen wird Rassismus nicht mehr vom biologisch fragwürdigen Begriff menschlicher Rassen abgeleitet, sondern bezeichnet eine Zuschreibung von Eigenschaften auf Grundlage von Abstammung, kultureller oder religiöser Zugehörigkeit. Sprich, Kennzeichen einer rassistischen Aussage ist: „alle (XY) sind…“ Dabei kann eine positive Zuschreibung genauso rassistisch sein wie eine negative.
Diese Definition ist erkennbar vage und sagt nichts darüber, wie Rassismus entsteht.
In theoretischen Studien zum Thema Rassismus gilt Spanien im 16. Jahrhundert als Ort, an dem der moderne Rassismus (ob die römisch-antike Teilung in Römer und Barbaren rassistisch war, ist fraglich) das erste Mal belegt ist. Nach der Eroberung der ganzen Halbinsel durch die christlichen Königreiche Kastilien und Aragon wurden die in großer Zahl vorhandenen muslimischen und jüdischen Einwohner zwangsgetauft. Eine Generation später führte eben diese Zwangsbekehrung zur Vorstellung von geheimen Verschwörungen der davon Betroffenen, was auf der einen Seite zu massiven Verfolgungen führte (die Geburt der berüchtigten spanischen Inquisition), auf der anderen Seite zur Entwicklung einer damals völlig neuen Vorstellung „reinen Blutes“. Frei von jedem Verdacht, heimlich einen anderen Glauben zu praktizieren als den allein selig machenden waren nämlich nur Personen, die aus Familien stammten, die immer schon katholisch waren und auch während der Zeit von Al Andalus keine dort möglichen Mischehen eingegangen waren.
An dieser Geburtsstunde lässt sich schon erkennen, dass Rassismus immer untrennbar mit Eroberung und Unterdrückung verknüpft ist. Es ist keine Fantasie, die einem kranken Gehirn entspringt, sondern eine verzerrte gedankliche Wiedergabe realer Machtverhältnisse. Die Ausweitung der Vorstellung von „reinem Blut“ verlief in den folgenden Jahrhunderten im Takt der Ausweitung europäisch-weißer globaler Vorherrschaft, und wie begrenzt die Möglichkeiten sind, dem auf der rein gedanklichen, ideologischen Ebene entgegenzutreten, bewies schon die Kontroverse von Valladolid. Nachdem die Entdeckung des amerikanischen Kontinents (bzw. der ersten ihm vorgelagerten Inseln) sehr schnell zur Versklavung und dadurch verursachten Ausrottung der ursprünglichen Bewohner führte, versuchte der Mönch Bartolomé de las Casas in einer theologischen Debatte durchzusetzen, auch die Indios seien Geschöpfe Gottes, der Erlösung fähig und dürften darum nicht versklavt werden. Er hatte in dieser Debatte Erfolg; die Konsequenz war allerdings nur, dass daraufhin an die Stelle der indianischen Sklaven afrikanische traten und jener Völkermord begann, den schwarze Historiker nach der Seefahrtsstrecke „Middle Passage“, die mittlere Passage, nennen. Der transatlantische Sklavenhandel verwüstete nicht nur blühende westafrikanische Kulturen und raubte ihnen den Nachwuchs; die Hälfte der unfreiwilligen Passagiere der Sklavenschiffe starb auf der Überfahrt, und die Lebenserwartung eines Sklaven in den Kolonien betrug wenige Jahre. Alle Kulturen aller Länder, die Ziele des Sklavenhandels waren, tragen die Spuren dieses Verbrechens bis heute.
Ende des 19. Jahrhunderts war es ausgerechnet die „Bekämpfung des afrikanischen Sklavenhandels“, die als Rechtfertigung für die militärische Besetzung Afrikas durch die Europäer diente. Seitdem wurden immer wieder halbe Kontinente am Reißbrett zwischen unterschiedlichen Kolonialherren aufgeteilt. Und es ist nicht zu leugnen – die ökonomische wie die militärische Macht weltweit liegt noch immer in den Händen weißer Mitteleuropäer (die berühmten WASP der USA, weiß, angelsächsisch, protestantisch, sind nur eine Untergruppe).
Begleitet wurde diese Eroberung übrigens von massiven propagandistischen Maßnahmen, die bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts andauerten. Viele Zoos, in den man heute ausschließlich Tiere sieht, hatten damals eine Menschenabteilung, in denen vermeintlich das wahre Leben der „Primitiven“ dargestellt wurde. Wenn man berücksichtigt, dass Zoos vor allem von Kindern gerne aufgesucht werden, ein Einfall mit Langzeitwirkung.
Wenn sich heute ein Frank-Walter Steynmeyer* hinstellt und erklärt, Assad müsse gehen, dann ist das nur deshalb möglich, weil die Vorstellung, wer so etwas darf und wer nicht, tief in der Kultur verankert ist. Wenn der Präsident von, sagen wir einmal, Mauritius, erklären würde, Angela Merkel müsse gehen, wäre das ein Scherz. Steynmeyer kann sich anmaßen, einem anderen Land und dessen Bevölkerung Vorschriften zu machen, weil die dominante Stellung der kapitalistischen Kernländer ein so selbstverständlicher Teil unserer Weltwahrnehmung ist, dass sie fast wie eine Tatsache der Natur wahrgenommen wird. Denn natürlich ist Steynmeyers Bemerkung nicht nur aggressiv und kolonialistisch, sondern auch rassistisch, weil sie impliziert, er, Steynmeyer, wisse schon von Natur aus besser über die Welt Bescheid als irgendwelche Syrer, die nur den bösen Assad haben, weil ihnen der weiße Herr noch nicht das Licht der Erkenntnis gebracht hat. Dieses mit Waffengewalt bewehrte Licht der Erkenntnis mit wechselnden Namen, das schon „Bekehrung zum wahren Glauben“ hieß, „Zivilisation bringen“, „Mädchenschulen bauen“ und jetzt eben wieder mal „Demokratie bringen“ setzt für seine Wirksamkeit als Rechtfertigung aggressiver Handlungen gegen andere Völker voraus, dass eine Vorstellung von Überlegenheit sicher etabliert ist, verstärkt sie aber selbst auch immer wieder. (Dass die Bereitschaft besteht, vor noch herrenmenschigeren Herrenmenschen zu katzbuckeln, ändert nichts am Charakter der eigenen Attitüde).
Diese Machtverhältnisse sind für jeden wahrnehmbar; man muss nur die Nachrichten anschalten. Die idealistische Vorstellung, diese Wahrnehmung durch persönliche Begegnungen auslöschen zu können, täuscht. Denn die Personen, die einander begegnen, sind keine unbeschriebenen Blätter, sie tragen ihre jeweils entgegengesetzten Varianten von Kolonialgeschichte im Gepäck, und eine solche Begegnung ist keineswegs konfliktfrei, auch wenn die konsequente Bekämpfung jeder wirklich fortschrittlichen Politik in den meisten Ländern dazu geführt hat, dass sich der Befreiungswunsch auf Seiten des Kolonisierten nur in einer höchst verzerrten, maskierten Weise zeigen kann. (Wer begreifen will, in welche Tiefen der Persönlichkeit sich solche Strukturen auswirken, sollte Frantz Fanon lesen).
Es ist auch nicht böser Wille, der Menschen dazu bringt, diesen rassistischen Vorstellungen zu folgen. Der Mensch als prinzipiell vernunftbegabtes Wesen hat das Bedürfnis, alles, was er sieht und erlebt, zu begründen und irgendwie in eine schlüssige Erzählung einzubauen. Wenn die konkrete Erfahrung die ist, dass braune Menschen (als Oberbegriff für alle, die nicht schweinchenrosa sind) arm, schlecht gebildet, unterworfen sind, und die Gesellschaft, in der man lebt, Reichtum und Armut als persönlichen Erfolg oder Misserfolg deutet, dann ist es logisch, genau den gleichen (falschen) Schritt bezogen auf den Rest der Menschheit zu machen und davon auszugehen, sie seien deshalb arm, schlecht gebildet und unterworfen, weil sie grundsätzlich dem weißen Mitteleuropäer in welchem Merkmal auch immer nachstehen.
Die wirkliche Lösung, solches Denken nicht mehr zu erzeugen, bestünde in der Abschaffung der Verhältnisse, die ihm zu Grunde liegen. Der wirkliche Schritt, solches Denken zu bekämpfen (in dem begrenzten Rahmen, in dem das ohne Änderung der Verhältnisse überhaupt möglich ist), besteht darin, die Verhältnisse, die es erzeugen, erkennbar zu machen und zu bekämpfen.
Anders gesagt – wer vom Imperialismus nicht reden will, sollte vom Rassismus schweigen.
Zwei brennende Häuser
Es gibt Momente, in denen eine Aussage nicht eine Aussage ist, sondern zwei. Wenn ich beispielsweise eine Menge auf der Straße sehe, die eine andere Menge anbrüllt, als „dämliche Vegetarier“, und ich geselle mich zu dieser Menge, dann gebe ich nicht nur zu verstehen, dass ich die Angebrüllten ebenfalls für „dämliche Vegetarier“ halte, sondern auch, dass weder ich noch einer der mit mir Stehenden diese Eigenschaft teilen.
Abstrakt formuliert teile ich die Gesamtheit in eine Menge A und eine Menge Nicht A. Bei konkreten Fragen ist das einfach und nachvollziehbar. Ich bin entweder dafür, dass ein neues Schwimmbad gebaut wird, oder nicht. Für eine Vermögenssteuer oder nicht. Für eine NATO-Mitgliedschaft oder nicht.
Der mittlerweile offiziell zelebrierte „Antirassismus“ hat allerdings keine politischen Forderungen; sein Gegenüber sind weder der Staat und seine Gesetze noch die Wirtschaft und ihre Interessen; sein Gegenüber sind schlicht andere Gruppen von Menschen, denen rassistisches Denken vorgeworfen wird und gegen die man Veranstaltungen abhält, die inhaltlich eher an Kaisers Geburtstag erinnern als an Politik. Es treffen sich alle ‘Guten’, um sich wechselseitig zu versichern, die ‘Guten’ zu sein, und dass die, die nicht an besagter Stelle stehen, die ‘Bösen’ sind.
Ein Musterbeispiel dafür sind die Kampagne ‘Aufstehen gegen Rassismus’ und die diversen ‘XY ist bunt’, unter deren Unterzeichnern sich sogar die Gewerkschaften friedlich neben Arbeitgeberverbänden finden (das Lamm weidet friedlich neben den Wölfen..), zusammen mit fast allen Parteien.
Gegen Rassismus bewirkt eine solche Kampagne gar nichts. Denn sie benennt nicht einmal, was Rassismus ist, sondern besteht nur aus der lautstark geäußerten Behauptung, die Unterzeichner seien jedenfalls keine Rassisten, ohne in irgendeiner Weise dafür einen Beweis anzutreten.
Auffällig auf der Unterschriftenliste dieser Kampagne ist – neben der Tortenwerferinitiative aus Berlin, die auch Teil des Bündnisses ist – die Zahl der Vertreter der Grünen. Und hier stoßen wir sofort auf das Problem.
Wie gesagt, es handelt sich hier um eine Aussage des Typs A – Nicht A. Zugespitzt formuliert, wer diese Liste unterschreibt, behauptet nicht nur von sich, kein Rassist zu sein, sondern akzeptiert auch die selbe Behauptung seitens aller anderen Unterzeichner als wahr.
Sind die Grünen keine Rassisten? Die SPD? Wirklich? Wie soll das gehen, wenn die NATO und ihre Kriegseinsätze unterstützt werden, die als imperialistische Kriegsführung unvermeidlich rassistisch sind; wenn die gegenwärtige Ordnung der Dinge, die Macht der Oligarchie von ihnen nicht in Frage gestellt wird, die Milliarden von Menschen zu Kolonisierten macht; wenn mit zügelloser Propaganda, die mehr als ein Bröckchen rassistischer Botschaften enthält, ein Angriffskrieg gegen Russland herbeigeredet wird und die Nähe zu lupenreinen ukrainischen Faschisten größer nicht sein könnte?
Es ist widerlich, wenn Menschen aus rassistischen Gründen Flüchtlingsheime anzünden.
Es ist aber nicht weniger widerlich, wenn Menschen aus ebensolchen Gründen ganze Länder anzünden.
„Der linke Flügel des Neoliberalismus“
Neoliberalismus ist die Bezeichnung für die Ideologie, die alle antisozialen Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts rechtfertigt. Sie ist eine Art Calvinismus auf Speed, eine Weltsicht, in der der zügelloseste Reichtum gerecht und das tiefste Elend die Schuld des Elenden ist. Sozial existiert in dieser Weltsicht nur in der Gestalt der Brosamen vom Tisch der Reichen. Neoliberalismus propagiert offen, was in der westlichen Politik davor zwar vorhanden, aber verbrämt war – die Unterordnung der Politik unter die Interessen der Monopole. Lenin nannte das Anfang des letzten Jahrhunderts Imperialismus, Merkel nennt das „marktkonforme Demokratie“.
Dem Neoliberalismus verdanken wir Wohltaten wie die Hartz-Gesetze, den Wettbewerb in der Absenkung der Unternehmenssteuern zwischen den Staaten, eine gewaltige Privatisierungswelle, deren Folgen man bei jeder Bahnfahrt genießen kann, einen Kult des Ego, das keinerlei moralische und soziale Bindungen mehr kennt, und eine schrittweise Verrohung der gesamten Gesellschaft auf allen Ebenen. TTIP und seine Geschwister (CETA, TPP) sind der Schlussstein in dieser Entwicklung; die in Erz gegossene Erhebung multinationaler Konzerne zu gottgleichen Gewalten jenseits von Recht und Gesetz.
Wie die ihm historisch vorhergegangenen Spielarten des Wirtschaftsliberalismus ist der Neoliberalismus vom faschistischen Denken stets nur um Haaresbreite entfernt. Nicht umsonst war Chile nach dem Putsch Pinochets das erste Land, in dem diese Ideologie zur praktischen Politik wurde.
Der US-amerikanische Politologe Adolph Reed nennt den heute verbreiteten Antirassismus den „linken Flügel des Neoliberalismus“. Als Beispiel führt er aus, nach diesen Vorstellungen sei eine Gesellschaft, in der 1% der Bevölkerung die Kontrolle über 90% der Ressourcen hat, dann gerecht, wenn sich unter diesem Prozent 12% Schwarze, 12% Latinos, 50% Frauen und eine noch unklare Zahl Lesben, Schwule und Transgender befänden.
Adolph Reed war selbst jahrzehntelang an den Kämpfen schwarzer Amerikaner um gleiche Rechte beteiligt. Er kennzeichnet diesen jetzigen ‘Antirassismus’ als eine scheinbar politische Haltung, der jede konkrete politische Forderung fehlt, und die, da auch keine Auseinandersetzung mit realen Verhältnissen von Macht und Abhängigkeit mehr stattfindet, letztlich nur eine moralische Predigt darstellt, die die gegebenen Verhältnisse ansonsten nicht mehr in Frage stellt.
Das kommt irgendwie bekannt vor, oder? Aber wie es zu solchen politischen Vorstellungen kommt, ist im Falle des ‘Antirassismus’ hier nicht nachvollziehbar, weil es keine reale politische Bewegung gab, deren Nachklang und Aufhebung er sein könnte. Es gibt aber ein sehr fassbares Gegenstück, dem in der Bundesrepublik eine reale Bewegung vorausging. Die Frauenbewegung.
Mädchenschulen erbomben
Die westliche deutsche Republik hinkte der östlichen jahrzehntelang hinterher, was die rechtliche und gesellschaftliche Stellung der Frauen betraf. Die erste und bis Mitte der 1970er einzige Verbesserung fand 1953 statt, als die gesetzliche Regelung, dass sämtliches Vermögen einer Frau mit der Eheschließung in den Besitz ihres Mannes übergeht, aufgehoben wurde.
In der Phase verstärkter gesellschaftlicher Kämpfe, die die ausgehenden 60er und beginnenden 70er kennzeichneten, tauchten auch wieder Forderungen nach Gleichberechtigung auf. Sie waren auf manchen Gebieten durchaus erfolgreich – seit 1977 brauchen verheiratete Frauen nicht mehr die Genehmigung ihres Mannes, um einen Arbeitsvertrag abzuschließen oder einen Kredit aufzunehmen. Die Streichung des Schuldprinzips aus dem Scheidungsrecht ermöglichte es erstmals, Ehen so aufzulösen, wie das vernünftige erwachsene Menschen tun sollten (diesen Fortschritt hat die ungleiche Einkommensentwicklung inzwischen teils dadurch wieder aufgehoben, dass nach einer Scheidung am Ende beide zu arm sind, um sicher leben zu können, aber das ist ein anderes Thema). Offene Diskriminierung geschiedener Frauen oder alleinerziehender Mütter fand nicht mehr statt, eine Zeit lang zumindest.
In anderen Bereichen jedoch hat diese Bewegung keinerlei Erfolge erzielen können. Der in der BRD im Vergleich sehr große Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen ist zwar erst ein wenig zurückgegangen, wächst aber seit einigen Jahren wieder. Auf einer Weltkarte, die letztes Jahr zum 8.März im Internet kursierte und die die zehn Länder weltweit je mit dem höchsten und dem niedrigsten Anteil von Frauen in Führungspositionen zeigte, war die BRD eines der schlechtesten Länder, neben den Vereinigten Arabischen Emiraten. Den höchsten Anteil an Frauen in Führungsposition hatte – Russland.
Der Sozialkahlschlag der letzten Jahre traf Frauen besonders stark. Das Renteneintrittsalter für Frauen wurde von 60 auf 67 erhöht,was die Rentenkürzungen der ohnehin weit niedrigeren Frauenrenten besonders deutlich ausfallen lässt. Besonders extrem ist hier die Lage der Alleinerziehenden, die, weil es sich dabei zu 90% um Frauen handelt, ein wirklich guter Gradmesser dafür ist, wie eine Gesellschaft mit den Rechten ihres weiblichen Teils umgeht. Die Hälfte der Alleinerziehenden lebt mit ihren Kindern von Hartz IV; und daran ändert sich auch durch eine Erwerbstätigkeit wenig, weil die weiblichen Einkommen zu gering sind. Kein anderes Land in Europa geht derart achtlos mit den eigenen Kindern um, und dementsprechend sinkt auch die Geburtenrate immer weiter.
Dennoch versichert die gesamte politische Klasse mit stolzgeschwellter Brust, „hier bei uns sind die Frauen gleichberechtigt“. Bizarrerweise trifft dies für den Beruf des Politikers sogar weitgehend zu; nur für den Rest der Gesellschaft bleibt das belegbar Fiktion. Aber glücklicherweise sind an die Stelle der nötigen Auseinandersetzung um Lebenssicherheit und Entfaltungsmöglichkeiten Diskurse wie jener um das Gendern der Sprache getreten, die sich mit nichts anderem beschäftigen als mit der Ausgestaltung eben jener potemkinschen Fassade, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass hinter dieser Fassade kein Haus ist.
Von den drei wirklich mächtigen Frauen in dieser Republik, Friede Springer, Liz Mohn und Susanne Klatten, haben zwei ihren Reichtum erschlafen und eine ererbt. So sieht es wirklich aus mit weiblicher Macht. Auf der anderen Seite ist mittlerweile die Kleidung selbst für Mädchen, die noch weit von der Pubertät entfernt sind, so sexualisiert, dass vor zwanzig Jahren eben diese Kleidungsstücke nur auf dem Straßenstrich verwendbar gewesen wären, und die Lebensperspektive, die in den Massenmedien verbreitet wird, lautet „Topmodel“ oder „Superstar“. Ein Leben als Objekt also.
Das Verschwinden der Auseinandersetzung in und mit der Realität war in der damaligen Frauenbewegung ein Ergebnis der Niederlage. Um an wirtschaftlichen Abhängigkeiten etwas ändern zu können, war sie nicht stark genug. Also kaprizierte sie sich ins Esoterische und lebte in Kleinstrukturen zur Vertretung spezifischer Interessen weiter; schließlich war es hier möglich, noch kleine Erfolge zu erreichen; für Beratungsstellen für Lesben reichte es noch, für eine Angleichung der Einkommen reichte es nie. Weil die für eine wirklich gleiche Entscheidungsfreiheit mögliche Veränderung nicht erreichbar war, wurde in der Folge das ganze Thema der harten materiellen Verhältnisse ausgespart; dieser blinde Fleck entstand also in Kooperation zwischen der unterlegenen Bewegung und den herrschenden Mächten. Übrig blieb eine Art Gespenst der ursprünglichen Bewegung, das so weit von den realen Bedingungen abgekoppelt war, dass es beliebig nutzbar wurde.
Und es wurde genutzt; schließlich war die Hauptlegende zur Rechtfertigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan die Förderung von Mädchenschulen.
In der gleichen Weise degenerierte der Kampf der schwarzen US-Amerikaner um Gleichberechtigung zum heutigen ‘Antirassismus’. Auch das ist keine wirkliche Bewegung, in der wirkliche Menschen um wirkliche Rechte kämpfen, sondern nur der verzerrte Schattenwurf, der nach der Niederlage übrig geblieben ist und jetzt frei genutzt werden kann. Hillary Clinton zeigt gerade in ihrem Vorwahlkampf, wofür.
Du sollst nicht sprechen
Diese beiden Gespenster ehemaliger Bewegungen haben vieles miteinander gemein. Beide haben die Veränderung der Wirklichkeit ersetzt durch eine Veränderung der Weise, wie über die Wirklichkeit gesprochen wird. Den Schwarzen, die in den USA von der Polizei auf der Straße niedergeschossen werden, regelmäßig und in beeindruckender Zahl, dürfte es herzlich egal sein, ob sie vorher ‘Nigger’ genannt werden. Denen, die zu hunderttausenden als Arbeitssklaven die Gefängnisse bevölkern (die USA stellen 25% der Gefängnisinsassen weltweit) dürfte das ebenfalls relativ gleich sein. Die erfolgreiche Tabuisierung des Aussprechens bestimmter Einstellungen hat es aber wesentlich erleichtert, so zu tun, als gäbe es kein reales Problem mehr.
Und hier bei uns? Es gibt einen riesigen Skandal um die Bemerkung eines besoffenen Politikers zu einer Journalistin, aber ganz und gar keinen Skandal um die Armut der Alleinerziehenden.
Es gibt zweifelsohne Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Das ist unvermeidlich, ist doch das industrielle Kernland BRD eines der Länder, die besonders vom System globaler Abhängigkeiten profitieren. Als politisches Thema tauchte Rassismus hier aber verspätet und ‘importiert’ auf – es gab hier keine politische Bewegung von Migranten, die Gleichberechtigung eingefordert hätten, sondern nur eine Generation Deutscher, die politisch mit der Vorstellung sozialisiert wurde, Rassismus sei schlecht (was er ja auch ist), sei ein Problem falschen Denkens, und müsse freundlicherweise im Interesse der davon betroffenen (die an diesem Prozess nicht aktiv beteiligt waren) bekämpft werden. Weil nie eine wirkliche Bewegung existierte, ist hier der Zusammenhang zwischen ihrem Entwicklungszyklus und jenem eigenartig moralisierenden Restgespenst besonders undurchschaubar.
Auch hier reden wir von Fassadenpolitik, aber in einer verschärften Weise, es ist Fassadenpolitik in Stellvertretung der Betroffenen. Ein konkretes Beispiel: der Stadtrat Münchens und auch die Betriebe, die der Stadt München gehören, geben gerne hehre Erklärungen ab, dass selbstverständlich niemand diskriminiert werden soll. In München, wo die Migrationsbevölkerung immerhin ein Drittel der Einwohner stellt, entbehrt das nicht einer gewissen Logik, alles Andere würde die Stadtgesellschaft sprengen. Dennoch finden sich unter den Auszubildenden der Stadtwerke kaum Jugendliche mit Migrationshintergrund. Warum? Die Stadtwerke erklären, sie wollten eben die besten Auszubildenden, die auf dem Markt zu haben seien, sammeln Bewerbungen gleich bundesweit und erklären, sie könnten doch nichts dafür, wenn die Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht gut genug seien….Und weil man sich dem Dogma verpflichtet hat, die Stadtwerke müssten der Gewinnerzielung dienen, statt der Stadtgesellschaft, ist das auch kein Problem.
München hat eine Studie finanziert, die über den Zeitraum von vier Jahren die ‘Bildungskarrieren’ von Jugendlichen analysierte, die auf der Hauptschule oder der Wirtschaftsschule waren. Eines der Ergebnisse dieser Studie war, dass Jugendliche mit zwei deutschen Eltern zu 80% im ersten Jahr nach Abschluss einen Ausbildungsplatz fanden, andere Jugendliche aber nur zu 30% – und das, obwohl es keinen (das ist so bizarr, dass man es laut wiederholen muss: KEINEN) nennenswerten Unterschied in den Noten gab. So etwas nennt man einen statistischen Nachweis für Rassismus. Die Reaktion des Stadtrats? Keine. Wir können die Unternehmen doch nicht zwingen… Wohlgemerkt, wir reden hier von den Lebenschancen von jungen Leuten, die hier geboren und aufgewachsen sind (oft genug auch schon ihre Eltern) und die sich von ihren ‘erfolgreicheren’ Klassenkameraden einzig durch ihre Herkunft unterscheiden.
Diese Fragen werden nicht nur vom Stadtrat mit freundlichem Schweigen übergangen, auch von den ‘antirassistischen’ Initiativen der Stadt. Warum? Ihre Haltung ist zutiefst paternalistisch, und je exotischer das Objekt ihrer Fürsorge, desto größer der Prestigegewinn und die Fantasie, damit irgendwie die Spießbürger zu ärgern. Dem Türkenjungen aus der Hauptschule drei Straßen weiter gehen sämtliche Pandabärenqualitäten ab, der kann ja reden, hat eine eigene Meinung, kommt womöglich noch frech und ist sowieso vor allem Proll, also ein Schmuddelkind, mit dem man nicht spielen soll, und schon längst nicht mehr als Projektionsfläche für eigenen Edelmut geeignet. Und wenn es darum geht, den eigenen Anspruch auf privilegierte Positionen später im Leben in Frage zu stellen, werden die meisten der tapferen Antirassisten sehr schnell zu Spiegelbildern ihrer Eltern; Quoten an Universitäten für Migrantenkinder oder selbst für Arbeiterkinder sind ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Da geht es schließlich ganz konkret um das eigene Fortkommen.
Die erste Generation dieser ‘Antirassisten’ ist längst in verantwortlichen Positionen gelandet, und sie halten erbittert an ihrer Verleugnung der materiellen Wirklichkeit fest. Das Ergebnis sind Handlungen, die so surreal sind, dass sie Wut erzeugen müssen, die dann im Gegenzug gleich zum Rassismus deklariert werden kann und damit neuen Sinn für die eigene Tätigkeit generiert. Der Extremfall in dieser Hinsicht war der Vorschlag in Wien, für Flüchtlinge eine Monatskarte für 4 Euro einzuführen. Wohlgemerkt, nur für Flüchtlinge. Sämtliche anderen Armen, seien es Rentner oder Migranten, die bereits länger dort ansässig sind, waren als Empfänger dieser Wohltat nicht vorgesehen.
Hier in der BRD kursiert der Vorschlag, die Grundschulen mögen Arabisch unterrichten. Arabisch? In den Grundschulen, die meine Töchter besucht haben, fanden sich Kinder mit Dutzenden unterschiedlicher Muttersprachen. Warum nur Arabisch? Und warum kommen jene Genies, die solche Vorschläge machen, nicht auf die Idee, dass jede Gesellschaft mit gemischter Herkunft eine ‘lingua franca’ braucht, die in diesem Fall natürlich das Deutsche wäre, und nehmen wahr, dass das wirkliche Problem ist, dass die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache nach wie vor nicht Teil der Lehrerausbildung ist? Die Lehrer also etwas tun sollen, was sie nicht gelernt haben, und es deshalb schlecht tun, und hier eine wirkliche politische Forderung steckt, die durchzusetzen zu wirklicher Verbesserung führen könnte? Nichts da. Es geht um ein moralisches Theater mit der Überschrift ‘Antirassismus’, und der Aufhänger dafür sind die Flüchtlinge, alles andere ist egal, und wer hier meckert, ist sowieso Rassist.
Die Abkopplung von der materiellen Wirklichkeit führt also nicht nur dazu, dass jene hinter einem Trugbild aus wohlklingenden Phrasen verschwindet, sie verhindert auch noch tatsächlich mögliche Verbesserungen. Wenn sich ein beliebig breites Bündel an Organisationen trifft, um gemeinsam öffentlich in einer Art Rütlischwur zu erklären, sie seien alle gegen Rassismus, ist das vor allem die Behauptung, es gäbe in diesem Land keinen Rassismus, außer in den Köpfen einiger weniger Verstockter. Es ist eine bedingungslose Bestätigung des Bestehenden.
Ein kleiner marxistischer Ausflug
Wenn man Marxisten fragt, was am Rassismus schlecht ist, lautet die erste Antwort: weil er die Klasse spaltet.
Das bedarf für Nichtmarxisten einer kleinen Übersetzung, weil der Begriff der Klasse in Deutschland erfolgreich eliminiert wurde. In den angelsächsischen Ländern ist das übrigens nicht der Fall, und völlig normale Leute unterhalten sich über Klasseninteressen und Klassenvorurteile. Aber in Deutschland, dem Ursprungsland der marxistischen Theorie, wurde der Antikommunismus so tief in die Köpfe geprügelt, dass sich schon zentrale Begriffe wie völlige sprachliche Exoten ausnehmen.
Also Klasse. Eine Klasse ist eine große Gruppe Menschen, die in Bezug auf den Produktionsprozess und den Besitz von Produktionsmitteln in der gleichen Position ist und daher grundlegende wirtschaftliche Interessen miteinander teilt. Das zeigt sich an simplen Fragen wie der Lohnhöhe – die Arbeiterklasse hat, und zwar als Ganzes, ein Interesse an steigenden Löhnen (auch alle, die Leistungen beziehen, die von Löhnen abhängen, wie Renten), und die Klasse der Unternehmensbesitzer hat als Ganzes ein Interesse daran, dass die Löhne sinken. Das erschließt sich schnell und unmittelbar. Bei politischen Fragen ist es manchmal etwas komplizierter, zu erkennen, welche Gruppe welches Interesse hat; aber es lässt sich relativ einfach sagen, dass ein Interesse an Kriegen nur jene haben, die daran verdienen; das ist unmittelbar die Rüstungsindustrie, mittelbar noch eine Reihe weiterer Industriezweige, aber keinesfalls jene, die überwiegend in Kriegen ums Leben kommen, nämlich die ‘einfachen Leute’.
Warum eine ‘Spaltung der Klasse’ schlecht ist, lässt sich auch einfach übersetzen. Die einzige Macht, die jene inzwischen sehr kleine Gruppe der Ultrareichen über die sehr große Zahl der nicht Reichen hat, besteht darin, die große Zahl in möglichst kleine Teile zu trennen, gegeneinander zu stellen und nach Möglichkeit dafür zu sorgen, dass gemeinsame Interessen gut verborgen bleiben. Einen Teil der dafür nötigen Mechanismen habe ich oben für den ersten Weltkrieg beschrieben. Vor dem zweiten Weltkrieg wurde etwas gründlicher dafür gesorgt, dass sich kein Widerstand mehr regen kann, durch offenen Terror.
Es gibt nicht nur eine solche Spaltung. In Deutschland ist sie wirklich auf die Spitze getrieben. Männer verdienen deutlich mehr als Frauen; die Lohnspreizung innerhalb einzelner Firmen, aber auch zwischen unterschiedlichen Berufen ist extrem hoch; es gibt eine starke Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen, und nach wie vor verdienen Beschäftigte im Osten weniger als im Westen. Leiharbeiter, Werkverträge, unbezahlte Praktika und Ein-Euro-Jobs gehören auch noch ins Bild. Während also mittlerweile ein überwältigend großer Teil der Bevölkerung zur Arbeiterklasse gehört, kleines Handwerk genauso fast verschwunden ist wie Tante-Emma-Läden und der Anteil der Landwirte an der Bevölkerung selbst in Bayern nur noch verschwindend klein ist, die Konstellation 1% Reichen gegen 99% also tatsächlich soziale Wirklichkeit ist, würde sich nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung als Angehöriger der Arbeiterklasse bezeichnen. (Auch das ist im Angelsächsischen anders). Und wie soll man denn gemeinsame Interessen formulieren, wenn schon das Wort, das diese Gemeinsamkeit beschreibt, als anrüchig gilt?
Dennoch, es gibt sie, und man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass alles, was verhindert, die gemeinsamen Interessen zu erkennen, den Wenigen nützt und den Vielen schadet. Klar ist auch, dass das Ziel, die Macht der Wenigen zu beenden, nur erreicht werden kann, wenn die Vielen sich wirklich weitgehend einig sind.
Das Problem dabei, diese Einigkeit zu erreichen, besteht darin, dass genau die selben Menschen gleichzeitig miteinander in Konkurrenz stehen, weil sie ihre Arbeitskraft auf einem Markt anbieten müssen. Dieses Problem hatten beispielsweise die Leibeigenen des Mittelalters nicht. Da Menschen die Welt auf Grundlage unmittelbarer Erfahrung deuten, ist es schwierig, auf gemeinsame Interessen hinzuweisen, wenn sie nicht erfahren werden, die Konkurrenz aber nicht nur erfahren wird, sondern unvermeidbar ist. Eine Erfahrung gemeinsamer Interessen ist jedoch nur in wirklichen Auseinandersetzungen möglich, nicht in Form einer theoretischen Belehrung. Auf der politischen Ebene ist dieses gemeinsame Interesse oft leichter herzustellen als auf der ökonomischen; deshalb sind die großen Umbrüche immer an tiefe politische Krisen gekoppelt, an lebenswichtige Fragen wie die von Krieg und Frieden.
Es ist klar, dass Menschen, die sich das Ziel gesetzt haben, die Herrschaft des Kapitals zu beenden, gegen die Spaltung der Klasse arbeiten müssen. Aber sind die Vorgaben der Political Correctness dabei hilfreich? Wenn ich der Überzeugung bin, rassistisches Denken spaltet die Klasse, legt schon die Logik nahe, dass der Satz „Mit dir rede ich nicht mehr, du Rassist“ in etwa die dümmste Reaktion ist, die darauf möglich ist.
Warum gibt es eine solche Erwartung nur in Bezug auf diese spezifische Spaltung, die doch nur eine unter vielen ist? Ist sie irgendwie schlimmer als alle anderen? Niemand hat bisher ein Bündnis gegen die Diskriminierung der Ost-Beschäftigten gegründet, obwohl diese Spaltung eine der tiefsten und folgenreichsten ist. Es kommt auch niemand auf den Gedanken, die Forderung zu erheben, Äußerungen, die sich gegen Bürger der DDR richten, zu zensieren. Ganz im Gegenteil – dutzendweise lassen sich Artikel finden, die (fälschlicherweise übrigens) die negativen Reaktionen auf die Flüchtlinge, die nur zum Teil wirklich rassistisch sind, pauschal zum Ergebnis der ‘zweiten deutschen Diktatur’ erklären. Sprich, wer sich – in welcher Weise auch immer – diesen Kampagnen wie ‘Aufstehen gegen Rassismus’ anschließt, verstärkt damit unter dem Deckmantel, eine Spaltung der Klasse zu bekämpfen, eine ganz andere Spaltung der Klasse, deren Konsequenzen viel konkreter und weitreichender sind.
Letztlich sind alle diese Spaltungen verheerend, denn sie tragen alle dazu bei, die bestehenden Klassenverhältnisse zu sichern, die inzwischen wieder den Krieg zum Dauerzustand erhoben haben und weltweit Leichenberge auftürmen, um einer sehr überschaubaren Gruppe Personen ihren Reichtum und ihre Macht zu erhalten.
Und noch ein Letztes: es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Sprechen und Tun. Wenn ich sage, es wäre ein Beitrag für den Fortschritt der Menschheit, wenn in der Bilderberg-Konferenz in Dresden eine Kalibr einschlüge, heißt das weder, dass ich eine solche Rakete besitze, noch, dass ich sie tatsächlich abschießen würde. Zündet jemand ein Flüchtlingsheim an, ist das ein Verbrechen, ganz einfach. Schreibt jemand darüber, so, wie ich oben über die Bilderberger geschrieben habe, sind das Worte. Es sind Worte, die mir nicht gefallen und die ich ungern lese. Aber auch das Recht sozialistischer Staaten machte einen deutlichen Unterschied zwischen Worten und Taten. Die Nazis machten ihn nicht. Wer es nicht glaubt, kann sich gerne Protokolle des „Volksgerichtshofs“ ansehen.
Die Unschuld der ‘europäischen Werte’
Nun gibt es sicherlich Phasen, in denen man sich solchen politischen Moden anpassen kann und sie zwar nichts nützen, aber doch zum Mindesten auch nicht schaden. Es ist ja auch durchaus angenehm, auf gewohnte Bündnisse zurückgreifen zu können, sich mühelos durch die Erfüllung einiger Verhaltensvorgaben den Status eines fortschrittlichen Menschen zu sichern und, solange sich nichts bewegt, dadurch vielleicht noch kleinste Veränderungen bewirken zu können. Die heutigen Grünen und die heutigen Kommunisten sind in einer politischen Landschaft aufgewachsen, in der sie sich häufig begegnen mussten. Man hat sich aneinander gewöhnt.
In manchen Momenten hat solches Verhalten allerdings ganz andere Folgen. In der SPD gab es vor 1914 durchaus schon Auseinandersetzungen über das Verhältnis zum Streben des Kaiserreichs nach einem ‘Platz an der Sonne'; aber sie führten nicht zu einer Trennung der Flügel, weil die Partei selbst schon Jahrzehnte bestand und die persönlichen Bindungen erst unter der Gewalt des Krieges endgültig zerbrachen.
In gewisser Weise ähnelt die heutige Situation innerhalb jenes Feldes, das sich ‘links’ nennt, der vor 1914. Wie der linke Flügel der Sozialdemokratie davor zurückschreckte, sich organisatorisch vom rechten zu trennen, schreckt der Teil dieses Kontinuums, der sich gegen den drohenden Krieg stellt, davor zurück, sich deutlich gegen jenen zu wenden, der diesen Krieg geradezu herbeiredet.
Die propagandistische Erzählung, die diese Kriegsvorbereitungen stützt, ähnelt an manchen Punkten frappierend jener von 1914. Auch hierfür liefert die Junius-Broschüre gute Beispiele. Das damalige Diktum vom ‘russischen Despotismus’, gegen die ein Krieg legitim sei, ist geradezu ein älteres Geschwister. Nur die Dekoration um dieses zentrale Bild hat sich verändert und ermöglicht die Täuschung, an dieser Haltung sei irgend etwas fortschrittlich.
Der zentrale Begriff dieser Kriegspropaganda heißt ‘europäische Werte’. Man könnte das eine säkularisierte Variation über den ‘wahren Glauben’ nennen. So, wie den außereuropäischen Heiden die christliche Nächstenliebe mit Kanonenbooten nahe gebracht werden musste (und die Frage, ob oder inwieweit diese christliche Nächstenliebe gesellschaftlich gelebt wurde, dabei keine Rolle spielte), so sind es heute Meinungsfreiheit, Toleranz, die Rechte der Frauen und der Homosexuellen. Zu diesem Komplex der europäischen Werte, also zum Kern der Kriegspropaganda, gehört auch die von Merkel erfundene ‘Willkommenskultur’. Sie ist ein Baustein jenes Bilds eigener Überlegenheit, das aufgebaut werden muss, um größere Teile der Bevölkerung zur Billigung der Kriegsvorbereitungen zu bewegen.
Zusätzlich kompliziert wird der Umgang durch die Tatsache, dass die relativ neue Partei AfD zumindest faschistische Teile in sich hat und damit den Reflex aktiviert, hier sei der Punkt, an dem man widerstehen müsse. Übersehen wird dabei gerne, dass genau dies beileibe kein Alleinstellungsmerkmal der AfD ist. Einer der Hauptverkünder faschistischer Positionen in der Bundesrepublik heißt nach wie vor Thilo Sarrazin und ist nach wie vor Mitglied der SPD, und die engsten Freunde der ukrainischen Nazis sind die Grünen. SPD und Grüne sind beide Unterstützer der Kriegspolitik der NATO. Beide finden sich aber immer wieder in Bündnissen, die sich ‘antifaschistisch’ nennen, und dort werden zunehmend eben jene ‘europäischen Werte’ beschworen, die die Rechtfertigung für einen Weg bieten, der durchaus geradewegs in die Vernichtung des Landes führen könnte.
Im selben Sinne stellt sich die Frage in Bezug auf Kampagnen wie ‘Aufstehen gegen Rassismus’. Die vermeintlich fortschrittliche Fassade ist inzwischen längst integraler Bestandteil aggressiver Politik. Und man sollte eines nicht vergessen – das Nürnberger Tribunal, das bekanntlich unter aktiver Mitwirkung der Sowjetunion stattfand, definierte, was das höchste völkerrechtliche Verbrechen darstellt: die Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs. Nicht anders wurde es auch ins Grundgesetz geschrieben. Kann man diese Auffassung ignorieren und so tun, als gäbe es die Beteiligung an diesem schlimmsten denkbaren Verbrechen nicht? Ist es nicht vielmehr erforderlich, die Erzählung zu unterlaufen, sich ihr zu verweigern, die Fassade einzureißen?
Sich auf die scheinbar humanitäre Erzählung der ‘Willkommenskultur’ einzulassen und sich karitativ für die Flüchtlinge zu engagieren, mag von guter Absicht geleitet sein. Mir kam dabei immer folgendes Bild in den Sinn – jemand rennt mit einem Messer in der Hand durch die Straße und sticht wahllos auf Leute ein. Das karitative Handeln entspricht dann dem, hinter diesem Mann herzurennen, um die von ihm verletzten zu verbinden. Die wirklich menschliche und sinnvolle Handlung bestünde allerdings darin, ihn aufzuhalten und ihm das Messer aus der Hand zu schlagen.
Die Sanktionen gegen Syrien wurden jüngst erst wieder verlängert, ohne dass dies größere Aufmerksamkeit erlangte. Diese Sanktionen entfalten ihre Wirkung in zwei Richtungen. Zum einen verringern sie die wirtschaftlichen Ressourcen der legitimen syrischen Regierung, was die Versorgung der zahlreichen Binnenflüchtlinge deutlich erschwert. Sie haben aber noch eine zweite Seite – Ölexporte seitens der ‘Opposition’ sind von den Sanktionen ausgenommen, wenn die „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“ sie befürwortet. Da die Übergänge zwischen den bewaffneten Gruppen fließend sind, ist hier die legale Tür für Ölexporte selbst durch Daesh in die EU; die „Nationale Koalition“, die in Katar gegründet wurde und in Istanbul ihren Sitz hat, ist sicher gerne bereit, die erforderliche Zustimmung zu erteilen. Die Sanktionen verschlechtern also nicht nur in dem Sinne die Lage der syrischen Bevölkerung, dass der Staat das Einkommen verliert, sie zu versorgen; sie erheben illegale bewaffnete Formationen zu legitimen Handelspartnern, die auf diese Weise eine gesicherte und durch die EU abgesegnete Finanzierungsquelle erhalten. Die Sanktionen halten den Motor des syrischen Krieges am Laufen.
Wäre die Energie, die unzählige Menschen im Rahmen der ‘Willkommenskultur’ aufgewandt haben, um die eigentlich staatlichen Aufgaben der Versorgung der Flüchtlinge unbezahlt zu erledigen, in die politische Auseinandersetzung gegen den syrischen Krieg geflossen, hätte sie wirklich etwas verändern können. Aber sich von den Verletzten auf der Straße abzuwenden und stattdessen zu versuchen, den Angreifer aufzuhalten, wirkt mitleidslos, vor allem, wenn das Aufhalten nicht schnell und einfach gelingt. Sich von den Konflikten, die als entscheidend aufgebaut werden, ab- (wie einem Kampf um die Flüchtlingsheime) und der Bekämpfung der politischen Ursachen zuzuwenden, wird schnell als unmoralisch betrachtet.
Die Lage ist unverkennbar verzwickt. Spätestens seit dem Putsch in der Ukraine ist klar, dass Faschismus als reale Option auf die europäische Bühne zurückgekehrt ist, so wie es mit dem Einsetzen der großen Krise zu fürchten war; dass es nach Krieg riecht, ist ebensowenig zu leugnen. Unklar ist allerdings, wo diese faschistische Gefahr zu verorten ist, so wie es im Jahr 1931 nicht klar war, welche der Organisationen, die sich anboten, letztlich das Rennen machen würde. Klar ist, dass keine der bürgerlichen Demokratien in Europa noch stabil ist. Wenn es nicht gleich die Ausrufung des Notstands ist, wie in Frankreich, dann zeigen die massiven Wahlfälschungen, dass das Personal der vermeintlich anderen Seite (wie in Österreich) ebenfalls keinen Pfifferling mehr auf das demokratische Prozedere gibt und jederzeit bereit wäre, an die Stelle des Parlaments die Diktatur zu setzen. Gegenstände, die man noch länger zu nutzen beabsichtigt, behandelt man pfleglicher.
Man kann Rassismus nicht bekämpfen, indem man Kriegstreiber verharmlost. Man kann einen drohenden Faschismus nicht bekämpfen, indem man sich gegen eine mögliche faschistische Variante A mit den Vertretern einer möglichen faschistischen Variante B verbündet und mit ihnen leere Rituale durchführt, die die ‘europäischen Werte’ und damit die bereits weit vorangeschrittene Kriegspropaganda zelebrieren. Der richtige Pfad ist schwer zu finden und mit Sicherheit anfänglich einsam; aber es ist unumgänglich, nach ihm zu suchen.
* Steynmeyer statt Steinmeier soll seine Nähe zu den ukrainischen Nazis sichtbar machen. Diese Schreibweise ist ebenso legitim wie die ‘ukrainisierte’ Schreibweise russischer Namen, die sich in der deutschen Presse etabliert hat. Siehe „Shwaynsbraghten“.